M. Kurt: Ein Topf voll Zeit 1928 – 1948

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Titel
Ein Topf voll Zeit 1928 – 1948.


Autor(en)
Mart, Kurt
Erschienen
Zürich 2009: Nagel & Kimche
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Geiser

Frühlingsferien 1940. Kurt Marti leistet als «Späher» freiwilligen Dienst im grenznahen thurgauischen Eschenz. Der regionale Kommandant des Fliegerbeobachtungsdienstes ordnet tägliche Turn- und Exerzierübungen an: «Militärlis spielen» nennen es die Jünglinge. Ein kleines Mädchen vertreibt sich oft seine Zeit bei ihnen. Einmal fragt es den auf der Kantonnementsmatratze lesenden Marti, ob er ihr die Geschichte erzähle. Kann er nicht, es handelt sich um Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen.

Von der grassierenden «Memoiritis» befallen, wie er im Vorwort selbstironisch feststellt, erzählt uns Marti dafür nun Geschichten aus seinem Leben vom Schuleintritt bis zum – mit einer Brüskierung von Regierungsrat Markus Feldmann verbundenen – Eintritt in den Dienst der bernischen Landeskirche, aus einer für die Schweiz wie für ihn selbst sehr prägenden Epoche. Stärker wohl als alle nachfolgenden habe seine Generation zu spüren bekommen, wie sich das Weltgeschehen in Lebensgeschichten niederschlagen kann. Kein Tagebuch, keine Biografie, schon gar keine geschichtliche Abhandlung legt uns Marti vor, sondern eine bunte Folge von ins Weltgeschehen eingebetteten Szenen. Sprachliche Meisterstücke, je wenige Seiten lang, atmosphärisch dicht und gespickt mit Erinnerungswürdigem. Volksinitiative für ein Verbot der Freimaurerei? Doch, auch das gab es schon.

Wir folgen dem Knaben auf seinem Schulweg, sehen, wie sein Gerechtigkeitssinn sich schärft – zum Beispiel angesichts der endlosen Reihen von «grauen Männern», die vor dem Arbeitsamt anstehen –, erleben mit, wie der Jugendliche sich durch den «Bund», dann vor allem durch literarische Lektüre die Welt erschliesst, wie er dank Hermann Hesses Steppenwolf gegen Zumutungen eines aus Amerika herübergeschwappten neuen Puritanismus gefeit ist.

Wie beiläufig entstehen unter Martis Feder berührende Zeichnungen von Weggefährten. Und von Vorbildern wie Karl Barth oder Dora, genannt Debora, Scheuner, bei der er Griechisch und Hebräisch büffelte und «die ohne weiteres das Zeug zur Professorin gehabt hätte». Wie Marti ja auch, aber das wäre eine andere Berner Geschichte, eine von 1968. Voller Neugier schliesslich verfolgt man seine Begegnungen mit Leuten, die man von anderswoher kennt, Fritz Dürrenmatt oder Hazy Osterwald etwa, Gertrud Kurz oder Boris Vian.

Einer Familientradition folgend, hatte Marti mit dem Jusstudium begonnen. Doch sagten ihm die «Lustbarkeiten des Verbindungslebens bald schon weit mehr zu als die juristischen Vorlesungen, die sich den Luxus leisteten, nicht auf die Zeitereignisse einzugehen, wie drastisch diese jetzt auch demonstrierten, dass stärker als jedes Recht das Recht des Stärkeren geworden war». Einem diffusen Gefühl, unvermittelt erwachter Neugier folgend, sattelt er auf Theologie um, von der er sich erhofft, dass sie ihm ganz neue Denkräume öffnet und Zugänge zu den «grossen Menschheitsfragen und Lebensrätseln». Einige Reminiszenzen dürften vor allem für theologisch Bewanderte oder Interessierte reizvoll sein. Aber der Topf voll Zeit ist ein Füllhorn. Im Zentrum stehen die Alltagsaufnahmen aus der Aktivdienstzeit, pathosfrei und mit unbestechlichem Blick – auch auf sich selbst – nachgezeichnet. Aufnahmen aus einer Rekrutenschule, die vor allem vom Menschlichen her angenehm verläuft; aus einer Unteroffiziersschule geprägt vom Sadismus eines Instruktionshauptmanns; aus einem Aktivdienst, den man fraglos in Kauf genommen habe, dessen Sinn für Marti jedoch umso fraglicher wurde, je klarer sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete, je mehr das Ganze für seine Einheit auf Skiferien im Berner Oberland und Beschäftigungstherapie hinauslief.

Und die grossen Fragen, die die Schweiz in jüngster Vergangenheit aufwühlten? Auch sie streift der Autor am Rand – entsprechend ihrem Gewicht in der damaligen öffentlichen Wahrnehmung. Die Schweiz sei ein Land der Geheimnisse und Geheimnishüter gewesen und dadurch automatisch zur Gerüchteküche geworden. So auch, was die Handels- und Finanzgeschäfte mit dem Ausland betrifft. «Doch wer schon begehrte ernsthaft, darüber Genaueres zu erfahren?» Gerüchte und einige Berichte, wonach die notorische Judenverfolgung sich zur planmässigen Judenvernichtung auswuchs, hätten so unglaublich geschienen, dass man ihnen keinen Glauben schenken mochte.

Der Student Marti sei wie die meisten hierzulande «ein Zu- und ein Wegschauer» gewesen, unwillig, sich die Kriegsgreuel realistisch vorzustellen, und unfähig, sie auszublenden. «Hilflosigkeit also. Ohne zeitweilige Verdrängung liess sich aber nicht leben.» Auch nicht ohne das, was in guten wie in schlechten Zeiten Leidenschaft entfacht. Des Jünglings und dann des jungen Mannes Annäherungen an das weibliche Geschlecht beanspruchen nicht den geringsten Platz in Martis Buch: ein – sehr vergnüglich zu lesendes – Zeitdokument für sich. Ganz so züchtig, wie man es von der Elterngeneration mit 1920er-, 1930er-Jahrgängen in den Ohren haben mag, ist es offenbar nicht immer zugegangen. Gleichzeitig scheint der spätere Theologe und Poet Kurt Marti durch. Dem Studenten sei es vorgekommen, als erhebe im Lied von der Lili Marleen «der lebensbejahende Eros völkerübergreifend seine Stimme gegen den Wahnsinn des Krieges». Spekulationen drängen sich ihm auf über die Weiblichkeit in Gott, diesem «jedenfalls zutiefst beziehungsfreudigen» Wesen.

Marti schöpft im Bewusstsein aus seiner Erinnerung, dass er unweigerlich auch auf Terrain gerät, «wo Fakten sich unentwirrbar mit Vermutungen, sogar mit Erfindungen vermischen und Legendenbildung Erinnerungslücken noch so gerne stopft». Wie der Historiker sein Material, interpretiert der Literat Marti seinen biografischen Stoff im Lichte späterer Erfahrungen und Erkenntnisse. Dass er seinen Anspruch, «damalige Geschehnisse und Stimmungen einigermassen adäquat wiederzugeben», eingelöst hat, dürfte ausser Frage stehen.

1947, Marti ist auf dem Sprung nach Paris als Büroleiter der ökumenischen Kommission für die Seelsorge an deutschen Kriegsgefangenen. Auto fahren zu können wäre ein Vorteil, aber die Zeit reicht schliesslich nicht, um den «Permis» zu machen. Martis Memoiritis beschert uns dazu dies: «Die nun mit Macht einsetzende Automobilmachung der Gesellschaft fand jedenfalls ohne seine Beteiligung statt.»

Zitierweise:
Urs Geiser: Rezension zu: Marti Kurt: Ein Topf voll Zeit 1928 – 1948. Zürich, Nagel & Kimche, 2009. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 73 Nr. 1, 2011, S. 64-66.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 73 Nr. 1, 2011, S. 64-66.

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